Blühende Landschaften am Stöckach?
„Der Neue Stöckach“
Das wohl teuerste Luxusgut in Stuttgart sind nicht die Austern in der Markthalle, das Sushi bei Feinkost Böhm oder der Sekt von Kessler, sondern etwas auf das niemand verzichten kann – Wohnraum! Immerhin rangiert Stuttgart auf Platz sechs im bundesweiten Ranking der teuersten Mieten und damit noch vor Städten wie Köln oder Hamburg. Doch nicht nur die Miethöhe ist ein Problem, sondern ganz einfach die Verfügbarkeit von Wohnraum für Alle, die hier arbeiten, leben und unsere (Stadt-)Gesellschaft formen. Ein Umstand, der nicht gerade neu und überraschend ist. Schon seit längerer Zeit ist das Thema Wohnen, Mietpreisentwicklung und Verfügbarkeit von Wohnraum ein Thema der lokalen Politik und alltägliches Stadtgespräch. Lösungen für das Problem lassen bis jetzt auf sich warten. Einen kleinen Lichtblick gab es trotzdem: Auf dem „EnBW-Areal“ sollten laut Planungen des Energiekonzerns bis zu 800 neue Wohnungen im Stadtteil entstehen. Davon der geringere Teil als sogenannter sozial geförderter Wohnraum, der überwiegende Teil der Wohnungen sollte für Mieten jenseits der 20€ pro Quadratmeter feilgeboten werden.
Doch mit dem leichten Lichtschimmer war es schnell vorbei: Ende März erhielt das Stuttgarter Prestigeobjekt urbaner Entwicklung einen gehörigen Dämpfer und wurde wegen fehlender Rentabilität gestoppt. Als Begründung müssen deutlich gestiegenen Baukosten dienen, die nicht schnell genug durch Mieteinnahmen wieder reingeholt werden können und den erwarteten Profit schmälern würden. Obwohl das Unternehmen EnBW in der Hand des Staates liegt und ein Großteil der Wohnungen für diejenigen gebaut werden sollte, deren Einkommen deutlich über dem Durchschnitt liegt, reicht das alles offensichtlich nicht aus, um die Renditevorstellungen des Managements zu befriedigen.
Natürlich ist es wenig verwunderlich, dass diese Entscheidung so getroffen wurde. Es mag zwar sein, dass sich der Besitz der EnBW in der sog. „öffentlichen Hand“ befindet und uns damit suggeriert wird, dass der Konzern im Interesse der Gesellschaft wirtschaftet. Die Entscheidungen werden aber nicht in unserem Interesse oder anhand gesellschaftlicher Notwendigkeiten getroffen, sondern im Interesse des Profits. Auch die Verantwortlichen der Stadt Stuttgart sehen ihrerseits keinen Handlungsbedarf, da der Stadt die Flächen des Areals nicht gehören und entziehen sich mit dieser simplen Ausrede ihrer Verantwortung.
Für den Stöckach, den Stuttgarter Osten und die in Stuttgart lebenden Menschen bedeutet dies, dass in einer Stadt, in der dringend für alle Einkommensschichten bezahlbarer Wohnraum benötigt wird, anstatt Wohnungen und einem lebendigen urbanen Leben nun eine triste, leerstehende Industriebrache entsteht. Statt Wohn- und Lebensraum für Alle, statt blühender Landschaften entsteht Leerstand und Verfall.
Wem gehört die Stadt?
Diese Situation, die die BewohnerInnen Stuttgarts auszubaden haben, wird sich sicherlich nicht ohne weiteres auflösen, da die Profiterwartungen des Konzerns bei steigenden Kosten für Neubauten nicht geschmälert werden dürfen. Ganz im Gegenteil: Spekulation statt Daseinsvorsorge heißt die Devise des „Staatskonzerns“ und der städtischen Verantwortlichen!
Dabei hätte die Entwicklung auch einen anderen Lauf nehmen können: Das Areal befand sich über Jahrzehnte im Besitz der Stadt. Doch die Idee der Privatisierung nach neoliberalem Vorbild fand auch in Stuttgart Anhänger und so wurde die Fläche vor mehr als 20 Jahren an die EnBW verkauft. Mit dem Versprechen, dass mit Einzug der Marktlogik die Daseinsvorsorge besser, billiger, schöner und toller wird, wurden Infrastrukturen, Versorgungseinrichtungen, Wohnungen und Flächen in die Hände von Aktiengesellschaften oder privaten Investoren gegeben. Wie dieses besser, billiger, schöner und toller aussieht, können wir heute beispielsweise an den billigen Energiepreisen oder dem kostengünstigen und stets in Schuss gehaltenem Wohnraum beobachten. Doch aller KritikerInnen zum Trotz, die damals schon sagten, dass das Ganze eine naive Rechnung sei, wurde eine Privatisierungswelle nach der andern durchs Land gepeitscht. Die Medien und Lobbyisten der Wirtschaft und des Kapitals leisteten dabei willfährig ideologische Schützenhilfe. Dabei ist heute jedem Schulkind klar, dass Wirtschaftsunternehmen niemals der Gesellschaft, der Allgemeinheit sowie sozialen oder ökologischen Interessen verpflichtet sind, sondern in erster Linie der Notwendigkeit, Profit aus all ihren Tätigkeiten zu schlagen. Daher ist es wenig verwunderlich, dass auch die staatliche EnBW hier nicht anders verfährt und der damalige Verkauf stellt sich – wie viele Male davor – erneut als Bärendienst an der Gesellschaft dar. Profit steht einmal mehr im Mittelpunkt und nicht unsere Bedürfnisse.
Wer entscheidet über die Stadt?
Mit der jetzigen Entscheidung entlarven sich die Verantwortlichen hinsichtlich ihrer Beteiligungsprozesse vollends, denn nun wird klar, dass die Interessen der AnwohnerInnen stets nachrangig sind. Über vier Jahre hinweg brachten Menschen aus dem Stadtteil ihre Ideen ein, durften in verschiedensten Formaten mitdiskutieren, quasi auf dem Papier mitplanen und angeblich ihr Quartier selbst gestalten. Nun tritt die Ernüchterung ein: Beteiligung hat wenig mit Gestaltung oder tatsächlicher Mitbestimmung zu tun – vor allem, wenn die eingebrachten Ideen den Profiterwartungen von Konzernen entgegenstehen. Sie dient einzig der Durchsetzung der Konzerninteressen und nicht der Umsetzung von tatsächlich aus der Gesellschaft heraus entwickelten und gestalteten Ideen. Denn die Frage, wie viele Wohnungen tatsächlich bezahlbar sein sollen, wurde natürlich nicht gestellt oder diskutiert. Dies war vorgegeben und sah lediglich für jede zehnte entstehende Wohnung eine Sozialmietwohnung vor. Weitere 30% entfallen auf sogenannte „Mietwohnungen für mittlere Einkommensbezieher“ (mittleres monatliches Brutto-Einkommen in Stuttgart, Stand 2022: 4373€). Das Groß der Wohnungen sollte sich also in einem Preissegment bewegen, das für die meisten StuttgarterInnen und vor allem für AnwohnerInnen nicht erschwinglich ist. Von der Allgemeinheit geförderte Wohnungen sind eben nicht gleich Wohnungen für die Allgemeinheit. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf den lokalen Mietspiegel und die umliegenden Wohngebiete. Daran ändert auch das ganze Beteiligungsschauspiel nichts. Wer heute und hier bestimmt, wie eine Stadt, ein Viertel oder ein Quartier aussieht, aussehen soll, sich entwickelt, wer dort lebt und wie dieses Leben aussieht, entscheiden diejenigen, denen die Flächen gehören, sie verwalten und über sie verfügen, anstatt der Menschen, die dort leben. Und diese Entscheidungen sollen nicht das schöne und gute Leben für Alle ermöglichen. Sie sollen den Profit und die Verwertung ebenjener Flächen erhöhen.
Alles Allen – Die Stadt in unsere Hände nehmen!
Wir streben eine Welt an, in der nicht die Profitmaximierung, die Verwertung von Kapital oder das Interesse der Banken, Konzerne und Investoren unser Leben bestimmt. Wir streben eine Welt an, in der die Bedürfnisse und Interessen Aller Ausgangspunkt gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse sind. Im Konkreten bedeutet das einen „Neuen Stöckach“ nach unseren Interessen und Bedürfnissen! Bezahlbarer Wohnraum statt Industriebrache und Spekulation! Ein lebendiger, vielfältiger Stadtteil, statt ein Quartier der Reichen! Eine Gestaltung von unten, statt das Diktat des Profits! Eine Daseinsvorsorge, die sich am Groß der lohnabhängigen Bevölkerung und den Interessen der MieterInnen orientiert. Ein Quartier, das der Privatwirtschaft entzogen ist und dessen vorderster Zweck die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für Alle ist.
Wir sind diejenigen, die hier wohnen und leben – nehmen wir die Stadt in unsere Hände, gestalten wir sie gemeinsam nach unseren Bedürfnissen. Gehen wir gemeinsam auf die Straße und treten ein für unsere Vorstellung von einem lebenswerten und guten Leben. Lasst uns gemeinsam Politik entwickeln, diskutieren und zu versuchen, die wirklich wichtigen Fragen zu beantworten, statt uns den Kopf zu zerbrechen, wie wir möglichst viel Profit aus unserer Stadt oder unserem Viertel ziehen können!
Welche Bedingungen müssen moderne Bauprojekte erfüllen, damit sie wirklich das Grundbedürfnis des Wohnraums für alle Menschen des Stadtteils erfüllen? Welche Formen der Mobilität benötigen wir in Zeiten von Klima-, Energie- und Kostenkrise? Was benötigt ein Quartier, um uns als NachbarInnen zusammenzubringen und unsere gemeinsamen Interessen zu entdecken, statt der Vereinzelung Vorschub zu leisten? Was benötigt ein Stadtquartier, damit es Raum bietet, in der Kultur entstehen und gelebt werden kann? Und vor allem die Frage, was können wir tun, damit diese Ideen Realität werden?
Werde aktiv! Nimm und gestalte einen Abend lang den Platz des neuen Stöckach! Für die Utopie einer anderen Form des Zusammenlebens ohne Zwang zur Profitmaximierung. Für unsere Vorstellung von blühenden Landschaften.
Kundgebung am Stöckachplatz mit anschließendem Fest: Samstag, 21.10.23 um 17 Uhr am Stöckachplatz und rund um das EnBW-Areal Musik, Politik, …