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Soziales

Bericht zur Kundgebung für ein soziales, gerechtes und solidarisches Stuttgart

Knapp 100 Menschen folgten dem Aufruf der Initiative für ein Sozialforum in Stuttgart zur Kundgebung in Cannstatt für ein soziales, gerechtes und solidarisches Stuttgart.

Die Kundgebung richtete sich gegen die Politik des sozialen Kahlschlags, die sich überall zunehmend bemerkbar macht:

  • die sich zuspitzende Wohnungsnot mit ständig steigenden Mieten,
  • die Kosten des ÖPNV,
  • die öffentliche Daseinsvorsorge, die zunehmend unter Kürzungen und Ausrichtung auf Profit leidet – nicht umsonst wird vom Pflegenotstand und der Kitastrophe gesprochen,
  • sowie steigende Lebenshaltungskosten – allen voran im Energiesektor.

Und während es an allen Ecken an Budget für dringend benötigte Projekte wie Schulsanierungen, Kitas, Pflegeeinrichtungen und soziale Angebote mangelt, werden beträchtliche Summen für Luxusausgaben ausgegeben.

Dies wurde auch in den Reden thematisiert. So ging Dr. Michael Wenzler auf das Thema Armut ein, thematisierte was ein Sozialstaat eigentlich zu leisten hätte und plädierte für Solidarität statt soziale Spaltung. Sozial Radikal Gegens Kapital schlug die Brücke von der Politik der sozialen Kahlschlags zur bald stattfindenden Europameisterschaft für die im Vorfeld nichts zu teuer war, während Kürzungen im sozialen Bereich beinahe an der Tagesordnung sind. Eine Rednerin von Fridays for future machte die Notwendigkeit die soziale und die ökologische Frage zusammen zu denken am Beispiel der „Wir fahren zusammen“-Kampagne auf, in der Bedienstete des ÖPNV zusammen mit Klimaaktivist*innen auf die Straße gingen. Das Frauenkollektiv Stuttgart thematisierte die öffentliche Daseinsvorsorge am Beispiel der Familie. Die Rednerin der Mieterinitativen Stuttgart zeigte deutlich auf mit welchen Mitteln Vermieter*innen arbeiten, um möglichst viel Profit herauszuschlagen und verdeutlichte: Widerstand und Organisierung lohnt sich.

Für die musikalischen Beiträge sorgte die Band Shit out of Luck.

Fazit

Die Kundgebung zeigte auf, dass es richtig und notwendig ist die Themen gemeinsam zu betrachten, wenn wir das Ziel haben ein soziales, gerechtes und solidarisches Stuttgart zu erstreiten. Und so stellte die Kundgebung im Vorfeld der Kommunalwahlen einen kleinen, aber wichtigen Schritt dar, um der Forderung Ausdruck zu verleihen: „Die Stadt gehört uns allen!“

Kurz erwähnt werden muss, dass die Stadt kurzfristig den Kundgebungsort vom Wilhelmsplatz zum Cannstatter Carré verlegen ließ, da die Polizei Stuttgart die Nutzung des Wilhelmsplatzes auf Grund von Sicherheitsbedenken untersagt hatte.


Reden

Rede von Dr. Michael Wenzler – Armut und soziale Spaltung

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, liebe Mitmenschen,

ich bin gebeten worden, auf dieser Kundgebung zum Thema „Armut
und soziale Spaltung“ zu sprechen.

Als ich von eurer Veranstaltung und der Einladung erfahren habe, habe ich mich sehr gefreut. Mir war sofort klar, dass ich kommen und zu und mit euch sprechen möchte. Denn auch wenn die Nachrichten voll sind von schlechten Neuigkeiten, erlebe ich doch, dass mehr und mehr Menschen erkennen, was die eigentliche Ursache der großen gesellschaftlichen Unzufriedenheit ist, die uns heute in Deutschland überall begegnet.

Dass mehr und mehr Menschen erkennen, dass es System und eine Ursache hat, warum es heute so viele Senioren gibt, die Pfandflaschen sammeln, um sich ihre unzureichende Rente aufzubessern; warum es so viele Menschen in diesem Land gibt, für die die Besorgung von Lebensmitteln bei der Tafel zu einer existenziellen Notwendigkeit geworden ist; warum es heute so viele Obdachlose in einem so reichen Land gibt.
Mehr und mehr beginnen zu verstehen, dass dies darin begründet liegt, dass vom immer weiter gewachsenen Wohlstand in unserem Land in den letzten Jahrzehnten nur einige Wenige profitieren, während viele sich das Allernötigste nicht mehr leisten können.
Mehr und mehr von uns beginnen zu erkennen, dass es diese immer weiter gewachsene soziale Ungleichheit und die damit verbundene Zunahme von Armut im Land ist, die die Gefühle von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Ohnmacht verursachen, die uns heute überall begegnen. Denn wie soll ich meine Lebenssituation durch eigene Anstrengung verändern, wenn ganz normale Lebensziele für viele von uns völlig unerreichbar geworden sind?

Ich freue mich sehr, heute hier zu sein, weil ich der tiefen Überzeugung bin, dass dies das eigentliche Thema ist, das die enorme Wut und Frustration in diesem Land und überall auf der Welt verursacht.
Vielerorts erlebe ich eine Besinnung, die soziale Frage endlich wieder in den Fokus des politischen Handelns zu nehmen; es gibt mir Hoffnung und Mut, dass mehr und mehr von uns anfangen, dies zu begreifen und deshalb möchte ich zunächst „Danke!“ sagen für diese Kundgebung, danke und großen Respekt für euer Engagement!

Was Kürzungen und Sparpolitik bewirken

Ich bin gebeten worden, zu der Wirkung der Sparpolitik ein paar Worte zu sagen. Die „Wirkung“ dieser Sparpolitik lässt sich genau daran ablesen, wie viele Millionen Menschen heute auf die Tafeln angewiesen sind.
Der Soziologe Stefan Selke sagt, dass der Staat durch die anhaltende Sparpolitik und die Verknappung von Sozialleistungen sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr aus der öffentlichen Fürsorge zurückgezogen und die Aufgaben dem Ehrenamt und der Zivilgesellschaft überlassen hat. Das ist keine neue Entwicklung, die erst mit der Ampel begonnen hat. Sie hat System und lässt sich seit vielen Jahren beobachten.
Und so redlich und wertvoll das Anliegen der vielen, vielen Ehrenamtlichen bei den Tafeln ist, ist es allerdings nicht ihre eigentliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass viele Menschen in diesem Land nicht verhungern müssen. Das ist schlicht die Aufgabe des Sozialstaates, der im Grundgesetz als Staatsziel verankert ist: Unser Staat hat die Verantwortung, für die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Das ist das Sozialstaatsprinzip.

Und dementsprechend ist die Aussage des amtierenden Bundesfinanzministers, dass er „die Vorstellung, dass der Staat eine ‚Bringschuld‘ bei Sozialleistungen habe, verstörend findet“ nicht nur amoralisch. Sie ist schlicht illegitim und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

Was mich vielmehr verstört, ist, wenn ein Bundesfinanzminister, der wegen seines Amtes dem Gebot der Mäßigung und der Neutralitätspflicht unterliegt, wiederholt einseitige Polemik auf Kosten der Ärmsten betreibt. Sie zum alleinigen Verursacher unserer gesellschaftlichen Missstände erklärt, was unser Land weiter spaltet, Streit und Missgunst sät, während er doch eigentlich dazu aufgerufen ist, unser Land zu einen und Konsens und gesellschaftlichen Frieden zu stiften!

Und abseits dieser katastrophalen Auswirkungen solcher Polemiken auf das gesellschaftliche Klima werden Einsparungen natürlich keines der manifesten Problem, die dieses Land hat, lösen, wenn wir die Armen noch ärmer machen: die marode Infrastruktur der Deutschen Bahn, das Desaster in unseren Pflegeeinrichtungen, in denen unsere Eltern und Großeltern vegetieren müssen; die katastrophalen Zustände in den Kitas und Schulen, unsere nicht einsatzbereite Bundeswehr. All das wird sich natürlich nicht durch Kürzungen bei den Sozialleistungen lösen lassen, im Gegenteil, Kürzungen im Sozialen werden diese Probleme nur noch weiter verschärfen.

Wir werden mehr Armut in diesem Land haben, noch größere Anstürme bei den Tafeln, noch mehr Streit und Missgunst in unserer Gesellschaft, mehr Elend und Gewalt auf unseren Straßen, weil Sparpolitik und Kürzungen des Sozialstaats genau dies verursachen.

Das „Gerechtigkeitsproblem“

Und natürlich gibt es ein Gerechtigkeitsproblem in diesem Land, wie es der Bundesfinanzminister immer wieder öffentlich beklagt.
Aber dieses „Gerechtigkeitsproblem“ zeigt sich vielmehr darin, dass es mehr als 400.000 Menschen in diesem Land gibt, die arbeiten gehen und trotzdem auf das viel gescholtene Bürgergeld angewiesen sind, weil ihre Löhne so niedrig sind, dass sie das Bürgergeld zur Sicherstellung ihrer Existenz benötigen.

Das „Gerechtigkeitsproblem“ zeigt sich darin, dass verantwortungsvolle Menschen, die sich um kranke und bedürftige Familienmitglieder gekümmert haben, trotz selbstaufopferndem Einsatz am Ende ihres beruflichen Lebens große Lücken in der sogenannte Erwerbsbiographie aufweisen. Und auf die deshalb im letzten Abschnitt ihres Lebens nur noch Altersarmut und Elend wartet.
Dieses „Gerechtigkeitsproblem“ trifft die in der öffentlichen Debatte vielbeschworenen Leistungsträger, die unserer Gesellschaft zusammenhalten, die den Kitt in unserer Gemeinschaft stiften und über die so viel gesprochen, aber für die so wenig getan wird.

Diese Menschen wollen einfach ein Leben in Würde und einem Mindestmaß an sozialer Sicherheit führen, liebe Freundinnen, liebe Freunde!
Und dass ihnen das mehr und mehr verwehrt wird, das sorgt für den ganzen Frust, der uns heute überall begegnet.
Dass man sein ganzes Leben lang fleißig gewesen sein kann und dennoch im Alter arm ist, das verursacht die enorme Wut in unserem Land.
Dass sich heute in Deutschland kaum noch jemand ganz einfache Lebensträume, wie ein Häusle zu bauen, aus eigener Kraft erfüllen kann, das verursacht die große Unzufriedenheit überall.

Und das ist es, was viele Menschen in unserem Land seit Jahren den Feinden der Freiheit in Scharen in die Hände treibt. Weil sie sich seit Langem von den regierenden Parteien vergessen fühlen.

Aufbruch in eine bessere Zukunft

Denn was unsere Gesellschaft befriedet, ist sozialer Ausgleich und gelebte Solidarität. Es ist der soziale Ausgleich, der unserem Land über Jahrzehnte Stabilität, gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt beschert hat.

Es ist die Erfahrung, dass man aufgefangen wird, wenn man ins Rutschen geraten ist. Dass man nicht alleine ist, wenn es schwer wird im Leben. Dieses Erleben, dass einem geholfen wird in der eigenen Not, das stiftet Vertrauen, Dankbarkeit, Respekt und Einsatzbereitschaft. Alles Dinge, die unser Land dringend braucht.
In der Verantwortung, dafür zu sorgen, ist in allererster Linie unser Staat. Der Gesetzgeber in der Bundesrepublik muss sich um soziale Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger kümmern, so steht es im Grundgesetz.

Die Instrumente dafür liegen alle vor, andere Länder in der EU praktizieren seit Langem, was zu mehr sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Frieden führt: sei es eine Fusion von Rente und Pension, wie sie Österreich schon vor 2 Jahrzehnten durchgeführt hat und die zu einem deutlich höheren Rentenniveau als bei uns geführt hat; durch einen erheblich höheren Spitzensteuersatz, wie es ihn in Frankreich gibt oder eine Vermögenssteuer, wie wir sie bis Gerhard Schröder hatten und wie sie heute in allen Kantonen der Schweiz erhoben wird.

Es liegt in unserer Verantwortung, dies in der öffentlichen Wahrnehmung wieder prominent zu machen. Dafür müssen wir unbequem sein und die regierenden Parteien unmissverständlich erinnern, dass das ihre eigentliche Aufgabe ist.

Und es ist unsere Verantwortung, diese Solidarität im Alltag zu leben.
Lasst uns weiter für eine gute, eine gerechte Gesellschaft kämpfen, auch wenn der Weg noch so lang sein mag; lasst uns die Armut besiegen; stellt euch vor, wenn wir am Ende unseres Lebens zurückblicken können und voller Stolz sagen können: „Weil wir damals so gehandelt haben, gibt es heute keine Armut mehr in unserem Land“. In diesem Sinne: „Danke, dass ihr da seid, danke für euren Kampf! Lasst uns diesen Weg konsequent weitergehen!“

Rede von Sozial Radikal Gegens Kapital zur EM

Liebe Passant*innen, liebe Mitstreiter*innen, 

am 1. Maifest haben wir im Stadtteilzentrum Gasparitsch Besucher*innen gefragt, was für sie als Menschen, die in Stuttgart leben oder sich regelmäßig aufhalten, die anstehende EM in Deutschland bedeutet. Ein paar Antworten wollen wir euch vorlesen: „Die EM in Stuttgart bedeutet für mich gewaltbereiten Massen aus dem Weg gehen zu müssen“, Angst vor Repression und Verschärfung von Gesetzen wie dem PolGBW“, „Sexismus, Verdrängung aus dem öffentlichen Raum und Kommerz““Staus, voll, laut“….

Die Antworten zeichnen ein Bild mit Sorge vor Verdrängung, unangenehmen Situationen, Repressionen und Stress ab. Und das Bild kommt nicht von irgendwo. Schauen wir eine Straße weiter zum Cannstatter Bahnhofsvorplatz, sehen wir eine Baustelle, die seit fast einem Jahr besteht. Ein kompletter Umbau und eine Sanierung in Höhe von ca. 6 Millionen Euro, um Zitat „Fans aus aller Welt in Bad Cannstatt (zu) begrüßen“. Nicht, um den Menschen, die hier wohnen, leben und sich aufhalten mehr Lebensqualität zu geben. Nicht, um Menschen, die keinen Ort zum Aufhalten haben, einen solchen zu bieten, sondern alles nur, damit zahlstarke Gäste möglichst viel Profit in die nach außen perfekt aufgehübschte Stadt bringen. Auch Leerstand wird plötzlich vordergründig in der Stadt bekämpft. Etwas, was wir grundsätzlich unterstützen würden, da es ja dringend mehr bezahlbaren Wohnraum in Stuttgart braucht. Aber der Leerstand wird nicht für bezahlbaren Wohnraum erschlossen, sondern nur um eine bessere Außenwirkung zu haben. Leere Schaufenster, Baustellen und Lücken seien ja nicht schön anzuschauen. Da stellt sich wieder die Frage: Wem gehört die Stadt? Und für wen wird hier Politik gemacht?

Dabei sind die 6 Mio. für den Cannstatter Bahnhof noch Kleinvieh. Insgesamt 38,4 Millionen Euro investiert die Stadt Stuttgart für die EM und damit mehr als jede andere der deutschen Gastgeber-Städte. Hinzu kommen noch die Kosten für den Umbau des Stadions, das ganze kostet ca.140 Millionen Euro, wobei ca. 80 Millionen aus der Stadtkasse kamen, den Rest musste der VFB Stuttgart tragen. Das alles während soziale Projekte gekürzt werden und Sparmaßnahmen angedroht und durchgesetzt werden. 

Es entsteht der Eindruck, dass alles in diesem Jahr für die 4 EM Wochen ausgelegt wird, dabei geht es um zahlstarke Gäste und ums Image. Doch für Bewohner*innen Stuttgarts heißt das Stau, Menschenmengen, gesperrte Bereiche, hohes Polizeiaufkommen, mehr betrunkene Menschen, gewaltbereite und nationalistische Hooligans, Vertreibung, Einschränkungen, mehr Übergriffe, mehr Gewalt und mehr Angst. Wie bei allen letzten kommerzialisierten Europa- und Weltmeisterschaften geht die Rechnung wie viel auf der einen Seite aufgewendet, gearbeitet, abgegeben und eingeschränkt wird und auf der anderen Seite der Profit, der ganz anderen zu Gute kommt, nicht auf.

In Deutschland stehen insgesamt 650 Millionen Euro auf der Kostenseite – getragen durch uns alle!

Das alles interessiert weder die Stadtverwaltung, noch die UEFA. „Die ganze Stadt ein Stadion“ ist was zählt, wobei egal ist, ob die ganze Stadt ein Stadion sein möchte. Denn das muss immer wieder betont werden: Die Stadt – das sind wir alle! Und die allermeisten haben nichts von der EM.

Uns geht es nicht darum, Fußball als Sport oder Fußballfans als solche anzugreifen. 

Niemand, der einfach nur dem Fussball wegen ins Stadion geht, soll von uns kritisiert werden. Wem ist es denn auch zu verdenken, der eigenen harten Lebensrealität für einige Zeit im Stadion entfliehen zu wollen?

Unsere Kritik richtet sich gegen diejenigen, die die EM als das nutzen, was sie inzwischen geworden ist: Ein Event, das in allererster Linie der Vermarktung und der Profitgenerierung dient, bei dem der Sport selbst inzwischen im Hintergund steht.

Ein Event, gesteuert von einer undemokratischen Institution , die vor allem eines macht: In die Tasche von einigen wenigen korrupten Funktionären zu wirtschaften. 

Die UEFA stellt gleichzeitig auch noch die eh schon schwankende Rechtsstaatlichkeit in Frage und fordert die Kontrolle über die staatlichen Sicherheitsorgane während der Austragung. Dabei stellt sie ihre eigenen Regeln auf, die für die Städte bindend sind: Dazu gehört ein Demonstrations- und Kundgebungsverbot im und ums Stadion,die Verpflichtung Fanfeste zu organisieren und diese zu finanzieren und die Befreiung von Steuerzahlungen.

Wir sagen: Der Fussball, wie jeder andere Sport auch, ist kein Problem! Zum Problem wird der Fussball durch das, was aus ihm gemacht wird. Und zwar überbordende Kommerzialisierung und problematische Verhaltensweisen der Zuschauer*innen.

Wir sagen Nein zu einer EM für Reiche! Wir stellen uns gegen eine EM, die vielen insbesondere Männern wieder als Vorwand dient, besoffen durch die Stadt zu laufen und sexistische oder gewaltvolle Verhaltensweisen an den Tag zu legen.

Vor allem aber fordern wir einen Nutzen für alle bei Ausgaben der Stadt Stuttgart!

Denn: Die Stadt gehört uns allen!

Rede vom Frauenkollektiv zur Familie

Die Familie – “die Keimzelle des Staates“, (wie es die Weimarer Verfassung eins schrieb), steht mit der Ehe unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. So steht es in unserem Grundgesetz.
Aber wie sieht dieser besondere Schutz aus? Was tut unser Staat für DIE FAMILIE:
In Stuttgart leben ca. 57.000 Familien. Diese haben insgesamt ca. 19.000 Kinder unter 18 Jahren. Soweit so gut.
Aber wie staatlich bzw. städtisch geschützt sind diese Familien denn nun?
Dazu ein Blick in die Schlagzeilen:
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen.
43,2 % aller Alleinerziehenden sind von Armut betroffen.
⅕ der Bürgergeldbeziehenden sind Kinder unter 15 Jahren.
Regelsätzen des Bürgergeldes sehen je nach Alter 4 bis 7 Euro pro Tag für die Ernährung des Kindes vor.
Drei von vier Kinder, deren Eltern Sozialleistungen erhalten, können keinen Urlaub von mindestens einer Woche machen.
Jede dritte Großstadt-Familie lebt in einer zu kleinen Wohnung.

Aber wie kann das sein?
Wie schon Bundesfamilienministerin Lisa Paus betonte: “Kinderarmut ist Familienarmut”. Kinder sind finanziell abhängig von ihren Eltern. Demnach ist die sozioökonomische Lage der Eltern entscheidend und somit deren Einkommen.
Die meisten Familien haben trotz Arbeit nicht ausreichend Geld zur Verfügung und müssen ihr geringes Einkommen mit Sozialleistungen aufzustocken. Kinderarmut findet sich auch verstärkt in Familien mit Migrationsbiografie wieder. Sie sind permanent vielerlei Diskriminierungsformen ausgesetzt, wie strukturelle Ausgrenzung und Rassismen durch unter anderem mangelnde Sozialhilfe, prekäre Wohnsituationen und die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis (um nur ein paar Beispiele einer langen Liste zu nennen).
Hinzu kommt: In Deutschland wird bei Kindern und Familien oft als erstes gespart. Wenn Familien Sozialleistungen zur Existenzsicherung erhalten, sind diese nicht im Ansatz ausreichend, um ein gesundes Aufwachsen und soziale Teilhabe sicherzustellen.
Inflation und zunehmende Lebenshaltungskosten bewirken, dass immer mehr Familien in Deutschland in Armut getrieben werden. Die Reallöhne und die damit einhergehende Kaufkraft aller Beschäftigungsabhängigen sinken zunehmend.

Seit den 1990er Jahren sprechen wir von einem Abbau des Sozialstaats und auch heute werden massiv Mittel im Sozialhaushalt gekürzt. Doch wenn es um Sondervermögen des Bundes für militärische Aufrüstung geht, werden auf einen Schlag 100 Milliarden bereitgestellt. Eltern- bzw. insbesondere Mutterschaft ist vor diesem Hintergrund zum Ausdruck sozialer Ungleichheit geworden und wird es bei den aktuellen Sparmaßnahmen der Bundesregierung auch weiterhin bleiben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Kindergrundsicherung von Bundesfamilienministerin Paus, die im eben genannten Zitat das Problem scheinbar identifiziert hat, soll nun, anstatt der geplanten 12 Mrd. mit einem Restbudget von 2,4 Mrd. € eingeführt werden.

Dieses Phänomen lässt sich nicht nur auf Bundesebene beobachten. Auch hier bei uns in Stuttgart sehen wir: die Stadt lässt sich die Austragung der EM aktuell 38 Mio. € kosten und für 140 Millionen Euro wird der VIP-Bereichs des Stadions renoviert. Und das während parallel grundlegende Leistungen der öffentlichen Daseinsversorgung nicht ausreichend gewährleistet werden:
In Baden-Württemberg fehlen aktuell rund 57.600 Kitaplätze und 16.800 Fachkräfte – für Stuttgart liegen nicht einmal Daten vor, wie viele Plätze überhaupt benötigt werden. Klar ist: Die Wartelisten für Kinderbetreuungen sind lang und die Belastungen sowohl der Fachkräfte vor Ort als auch der Eltern zu Hause ist immens.
Wie verheerend dieser Notstand für Alleinerziehende ist, lässt sich allein an der deutlich höheren Armutsbetroffenheit dieser (in 91% der Fällen, Frauen) ablesen. Ich wiederhole es nochmal: 43,2% aller Alleinerziehenden sind von Armut betroffen. Fast die Hälfte aller Alleinerziehenden in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund können wir sagen: Das ist kein individuelles Problem. Das ist politisches Versagen!

Aber was meint das Grundgesetz dann, wenn es vom besonderen Schutz der Familien spricht?
Das Modell der vor allem heteronormativen Kleinfamilie, also Mann, Frau und Kinder ist klassenübergreifend und gesamtgesellschaftlich zum Ideal unseres Zusammenlebens geworden. Diese Idee ist historisch mit der Idee des Volkes und einer Nation verbunden. Sie hat sozusagen den Zweck einer Fortpflanzungsgemeinschaft, die immer weiter reproduziert werden muss. Dies ist nicht etwa eine rein völkische und rassistische Ideologie. Sie ist verwoben mit patriarchalem und sexistischem Denken, welches allgegenwärtig und grundlegend in unserer Gesellschaft verankert ist.
Darüber hinaus, im Sinne des staatlichen Schutzes, schlägt sich die patriarchal organisierte Kleinfamilie in unseren Gesetzen nieder: Das sogenannte Ehegattensplitting z.B., dass sich am meisten lohnt, wenn eine der beiden Personen nichts oder eben deutlich weniger verdient.

Wir alle wissen, wie dies in der Realität aussieht: Überwiegend die Frau kümmert sich um den Haushalt, die Kindererziehung und das Familienleben, der Mann arbeitet. Dies ist aufgrund der durchschnittlich höheren Einkommen der Männer auch die finanziell pragmatische Lösung. Die Zahlen bestätigen das: In mehr als 2/3 der Familien wird der Haushalt unbezahlt allein von Frauen übernommen und in nur etwa 5% der Haushalte kümmert sich der Mann zum überwiegenden Teil.
Die unbezahlte Arbeit der Frau zu Hause wird somit zur Basis der bezahlten Arbeit ihrer Männer. Viele Frauen sind dadurch gezwungen in Teilzeit zu arbeiten und prekäre Arbeitsverhältnisse anzunehmen. 63% der Frauen in Deutschland verdienen weniger als 1000€ im Monat.
Gleichzeitig steigt das Armutsrisiko, denn insbesondere Altersarmut ist weiblich: Frauen in Deutschland bekommen im Schnitt nur halb so viel Rente wie Männer. 60% der über 65-jährigen Frauen müssen mit einer Altersrente von unter 600€ monatlich auskommen. Und das alles ist der Fall, wenn das Idealbild der traditionellen Kleinfamilie funktioniert. Scheitert dieser Lebensentwurf sind es wieder v.a. die Frauen, die dabei als Alleinerziehende und Geringverdienerinnen verlieren.

Wer schützt dann nun also wirklich die Familie und Kinder?
Wie wir sehen kümmert sich die Politik nicht ausreichend um den Ausbau einer staatlichen Infrastruktur für Kitaplätze, die die Teilung von öffentlich/privat und damit die Hierarchisierung von Reproduktionsarbeit und produktiver Arbeit aufheben würde. Halbtagsschulen und die Öffnungszeiten von Kindergärten und öffentlichen Einrichtungen suggerieren immer noch, dass es notwendig und normal ist, wenn eine Betreuungsperson nachmittags für die Kinder zur Verfügung steht. Und in der Berufswelt sind Vollzeitstellen ebenfalls so organisiert, als sei klar, dass sich zu Hause eine andere Person kostenlos um die Reproduktion und Regeneration dieser vollen Arbeitskraft kümmert – also jemand einkaufen geht, kocht, wäscht und putzt.

Ehe und Familie ist damit zentraler Bestandteil neoliberaler Sozialreformen, die den Wohlfahrtsstaat abbauen, Arbeitslosengeld und Renten kürzen und medizinische Versorgung privatisieren. Die Familie soll sich als private “Miniwohlfahrt” um die “Seinen” kümmern und dabei gleichzeitig den Erhalt der Nation und der Volkswirtschaft sichern.
Unser Staat und die kapitalistische und patriarchale Gesellschaft sind auf die Maximierung der Profite für Konzerne angelegt und nicht auf die Aussicht und das Ziel auf ein gutes Leben für alle.
Wir sagen:

Es ist Zeit für eine soziale Wende! Wir müssen unsere Gesellschaft grundlegend verändern!

Denn wir wollen uns nicht länger für den Profit der wenigen Gewinner kaputt ackern!
Wir wollen uns nicht länger in patriarchale Rollenbilder pressen lassen!
Wir wollen solidarische Strukturen stärken und füreinander da sein!
Wir wollen Care Arbeit in unserer Gesellschaft kollektiv organisieren!
Wir wollen eine faire Aufteilung von Arbeits- und Lebenszeiten!
Wir wollen ein gutes Leben für alle, deshalb lasst uns gemeinsam mit der Arbeit daran beginnen!

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