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Antifa

Ein weiter so darf es nicht geben! Auch 10 Jahre nach dem NSU heißt es weiterhin: antifaschistisch kämpfen

Gegen rechten Terror und seine Netzwerke – Verfassungsschutz und Geheimdienste auflösen – NSU-Komplex aufklären

Am 4. November 2011 überfielen die damals noch nicht der breiten Öffentlichkeit bekannten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Wartburg Sparkasse in Eisenach und flüchteten daraufhin mit Fahrrädern in ein abgestelltes Wohnmobil. Als dort die nach den Tätern fahndenden Beamten eintrafen, fielen Schüsse und das Wohnmobil ging in Flammen auf. Am Nachmittag ereignete sich in einer Zwickauer Wohnung eine Explosion, die durch Beate Zschäpe herbeigeführt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste in Deutschland, außer einigen Beamten des Verfassungsschutzes, der Geheimdienste und etlicher Neonazis, niemand davon, dass damit einer der größten Skandale der bundesdeutschen Geschichte ans Licht kommen sollte: dass unter Mithilfe und aktiver Beteiligung staatlicher Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden ein Terrornetzwerk von Neonazis ungehindert 9 Migrant*innen und eine Polizistin umbringen sowie 43 Mordversuche, 3 Sprengstoffattentate und 15 Raubüberfälle begehen und damit eine noch nie dagewesene Serie des rechten Terrors quer durch die Bundesrepublik ziehen konnte.

Das Märchen vom Kerntrio, dem Rechtsstaat und einem unglücklichen Staatsversagen

Die drei “Haupttäter*innen” des sich als „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) bezeichnenden Netzwerks waren keine Unbekannten in der Rechten Szene, teilweise vorbestraft und polizeilich bekannt. Als Jugendliche in der seit den 80er Jahren erstarkenden rechten Skinheadszene sozialisiert und geprägt und politisch motiviert durch die rassistische gesellschaftliche Pogromstimmung Anfang der 90er Jahre und die rassistischen Krawalle wie in Hoyerswerda oder in Rostock, waren sie Mitglied im heute verbotenen “Thüringer Heimatschutz” (THS). Der THS war ein Zusammenschluss von verschiedenen Neonazi-Kameradschaften aus dem Milieu der militanten Rechten in Thüringen, der sich für unzählige Angriffe und offenen Terror verantwortlich zeichnete. Sein Ziel war, sogenannte National-Befreite-Zonen herzustellen bzw. No-Go-Areas für diejenigen zu schaffen, die nicht in ihr menschenverachtendes Weltbild passten.

Doch operierte der THS nicht ohne Wissen der Ermittlungsbehörden und Geheimdienste. So ist inzwischen bekannt, dass der damalige Chef des THS für seine Dienste als V-Mann 200.000 D-Mark (ca. 100.000 €) vom Staat erhielt, die er zum Aufbau der militanten Naziorganisation verwendete. Bei so einer engen Zusammenarbeit zwischen den Faschisten und den deutschen Inlandsgeheimdiensten ist es nicht verwunderlich, dass Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos sich ihrer Festnahme entziehen konnten. Denn bevor sie sich in den Untergrund bewegten, fanden Anfang 1998 bei allen drei Durchsuchungen statt. Sie wurden verdächtigt, an unterschiedliche Thüringer Institutionen Bombenattrappen versendet bzw. dort abgelegt zu haben. Statt Böhnhardt, dessen Garagen zu erst durchsucht wurden, in Gewahrsam zu nehmen, erlaubte es ihm die Polizei, einfach mit dem Auto davonzufahren. Als am selben Tag in der Garage von Beate Zschäpe 1,4 KG des Sprengstoffs TNT und 5 funktionsfähige Rohrbomben gefunden wurden, waren die drei bereits über alle Berge. Doch dies stellte nur den ersten Akt des staatlichen Schutzes für das über 11 Jahre mörderisch agierende rechte Terrornetzwerk dar.

Einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Kurz nach dem Untertauchen versuchte der Verfassungsschutz über den Führer des THS, dem Trio Geld und Pässe zukommen zu lassen, was angeblich scheiterte.
  • 1998 wurde der Brandenburger Verfassungsschutz über einen V-Mann informiert,dass sich drei untergetauchte, polizeilich gesuchte Nazis in Chemnitz aufhielten und Banküberfälle planten. Die Weitergabe dieser Information an die Polizei wurde von einem Referatsleiter des Verfassungsschutzes unterbunden.
  • Als das neunte bekannte Opfer des NSU, Halit Yozgat in Kassel mit zwei Kopfschüssen hingerichtet wurde, saß zur gleichen Zeit ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes, der in seinem Dorf unter dem Spitznamen “klein Adolf” bekannt war, nur wenige Meter entfernt.
  • Nach der Selbstenttarnung des NSU fand im Thüringer Verfassungsschutz eine groß angelegte Vernichtungsaktion von Akten statt, die die Beteiligung des Landesamtes in die Verbrechen des NSU und Informationen über weitere Beteiligte an dem Terrornetzwerk zum Inhalt hatten.

Dies sind nur einige Beispiele, wie der Staat seine schützende Hand über die Täter*innen hielt. Auch wurde nicht in dem riesigen (Unterstützer*innen)Netzwerk ermittelt, das der NSU hat. Stattdessen wurde sich auf die als Haupttäter*innen suggerierten Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos als „Kerntrio“ fokussiert. Heute sind jedoch knapp 200 Rechtsterroristen, Nazis und Faschisten bekannt, die mit dem „Kerntrio“ zusammenarbeiteten und sie aktiv unterstützten und bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Über 40 von ihnen waren ganz offiziell V-Leute und Informanten der Inlandsgeheimdienste.

Aber nicht nur die Unterstützung und direkte Verhinderung von Festnahmen sowie Behinderung der Ermittlungen gehörten ins Repertoire der Geheimdienste und Ermittlungsbehörden. Sie zündeten zusätzlich propagandistische Nebelkerzen, die die Opfer und ihr Umfeld rassistisch stigmatisierten. Statt in der rechten Szene zu ermitteln, was eigentlich offensichtlich sein müsste, da es sich bei den Opfern fast ausschließlich um Migrant*innen handelte, wurde in der Öffentlichkeit die Mordserie als sogenannte Dönermorde bezeichnet und suggeriert, es handele sich um “Clan-Streitigkeiten” und “Banden-Kriminalität von Ausländern” bzw. um Streitigkeiten innerhalb der migrantischen Community. Die Krone an sprachlichen und rassistischen Beleidigungen der Opfer setzte dem die Nürnberger Polizei auf. Sie benannte ihre Soko, die die drei in Nürnberg verübten Morde und das Bombenattentat untersuchte, mit dem Namen “Soko Bosporus”. Auch die Opfer des Bombenattentats in der Keupstraße sahen sich nach dem Anschlag mit Vorwürfen konfrontiert, sie seien in Drogen- und Menschenhandel verwickelt und nur aus diesem Grund sei der Anschlag auf sie verübt worden.

Gemeinsame Interessen, gemeinsame Ziele!?

Dass der Staat Nazis und Faschisten nicht wirklich bekämpft sondern unterstützt liegt nicht in der Haltung einzelner Politiker*innen oder Parteien begründet sondern in seiner inneren Logik. Der Staat ist in der bürgerlichen Gesellschaft nicht ein Ganzes aus vielen unterschiedlichen Interessen, das in demokratischen Aushandlungsprozessen entsteht. Er ist ein Konstrukt, das versucht, das Interesse der Herrschenden zu vergesellschaften. Er ist, wie wir alle, der Logik eines ökonomischen Systems unterworfen, das nur die Akkumulation von Kapital kennt und diese bis auf das Letzte versucht durchzusetzen. Alles was diese Logik gefährdet, wie solidarisches handeln und das hintertreiben dieser Logik wird als Gefahr erkannt und wird erbittert von ihm bekämpft.

Auch wenn Nazis, Faschisten oder die politische Rechte durchaus auch widersprüchlich zum staatlichen Handeln agieren, stellen sie die Logik und die auf Wachstumszwang, Konkurrenzkampf und Ausbeutung basierende Gesamtsystematik nicht in Frage. Und so gilt es aus staatlicher Sicht, diese Bewegungen zu kontrollieren damit sie nicht “über die Stränge schlagen”, statt sie zu bekämpfen. So lange diese gesellschaftlich wirkende Logik nicht durchbrochen wird, sind Faschistische Verbrechen nur die konsequente und logische Folge. Die rassistischen Pogrome der 90er Jahre, die Unterstützung militanter Neonazis, der NSU und seine Morde und die Unterstützung der Geheimdienste und Ermittlungsbehörden sind dabei nur einige Beispiele. Das war und ist es, was der Verfassungsschutz als Kampf gegen rechts versteht. So ist es wenig verwunderlich, dass zwar der Etat des Bundesamts für Verfassungsschutz seit 2011 von rund 210 Mio € auf 475 Mio. € mehr als verdoppelt wurde, der Rechtsterrorismus und die rassistisch motivierten Straftaten jedoch nicht weniger geworden sind. Eher das Gegenteil scheint der Fall, wenn wir uns an die von Nazi-Hooligans organisierten Hetzjagden erinnern, an die ansteigende Zahl von Brandanschlägen auf Unterkünfte von Geflüchteten und Migrant*innen oder die Mordanschläge von Hanau und auf Walter Lübcke.

Das ändert auch nicht das 2001 medial inszenierte Verbotsverfahren gegen die NPD. Das Gegenteil ist der Fall, denn es scheiterte an genau dieser Politik der Behörden. Das Bundesverfassungsgericht stellte nämlich 2003 das Verfahren mit der Begründung ein, dass zu viele V-Leute in der Führungsebene der Partei seien und dadurch nicht festgestellt werden kann, inwieweit die NPD unabhängig vom Verfassungsschutz agiert und ob die notwendige „Staatsferne“ der Partei besteht.

Auch der Prozess gegen Beate Zschäpe als Hauptangeklagte trug nicht zur Aufklärung der Taten des NSU bei, sondern glich eher dem Versuch, einen Schlussstrich unter den Komplex zu ziehen. Zwar wurde Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt, während ihre zwei Mitangeklagten mit kürzeren Haftstrafen davonkamen. Die Akten, die zur Aufklärung des NSU-Komplexes beitragen könnten, wurden jedoch für mehr als hundert Jahre unter Verschluss gestellt. So wird es den heute lebenden Menschen nicht möglich sein, die wirklichen Verstrickungen und Hintergründe des NSU-Komplexes zu erfahren. Beide Fälle zeigen deutlich auf, welches Interesse der Rechtsstaat an der tatsächlichen Aufklärung von rechten Anschlägen und Morden oder Verboten von rechten Organisationen hat – nämlich keines!

Dass wir uns im Kampf gegen den alltäglichen Rassismus, die faschistische Ideologie und rechten Terror nicht auf den Staat, seine Polizei, Geheimdienste, Richter und Staatsanwälte verlassen können, zeigt die offene Zusammenarbeit mit den Mördern des NSU oder das NPD-Verbotsverfahren in erschreckender Art und Weise auf. Es kommt nicht auf die medial inszenierten Auftritte von Kanzler*innen an, die nur darauf abzielen in der Weltöffentlichkeit gut Wetter zu machen und die Staatsräson zu wahren, auf Bekundungen nach „Weltoffenheit“ und Appelle gegen „Hass und Hetze“, die nur dem Zweck dienen, den offensichtlichen staatlichen Rassismus zu vertuschen oder ehemalige Bundestagspräsidenten, die einen Naziaufmarsch mit blockieren, oder aufgesetzte „Bunt-Bündnisse“ ohne Inhalt.

Nein! Es kommt auf die tausenden Aktiven an, die sich im notwendigen Kampf gegen Rechts engagierten und engagieren. Es kommt auf diejenigen an, die sich gegen Nazis zur Wehr setzen. Wichtig sind alle, die rassistische Sprüche nicht unwidersprochen hinnehmen, die Naziaufmärsche blockieren, die ihre Stimme erheben gegen den strukturellen Rassismus wie das EU-Grenzregime oder die alltäglichen Anfeindungen gegen als Migrant*innen gelesene Menschen. Es kommt auf uns als Menschen und Gesellschaft an.

Ein weiter so darf es nicht geben – gemeinsam antifaschistisch kämpfen – für eine solidarische Gesellschaft

Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir in einer Welt leben wollen, in der struktureller und staatlicher Rassismus das Leben von Menschen in Frage stellen darf. Ob es für uns akzeptabel ist, dass Menschen unter Aufsicht und aktiver Mitwirkung des Staates und seines Repressionsapparats durch rechte Terrornetzwerke bedroht, angegriffen und ermordet werden? Wir müssen uns fragen ob eine Welt, in der Konkurrenz und eine rassistische Spaltung der Gesellschaft unseren Alltag bestimmen, die unsere ist? Unsere Antwort lautet darauf in aller Klarheit – NEIN

Lasst uns gemeinsam für eine andere Welt kämpfen, in der Solidarität Grundlage unseres Handeln ist. Die Zusammenhänge, die rechten Terror entstehen lassen benennen und angreifen. Lasst uns zu einer Bewegung werden, die Nazis, Faschisten und Rechte aller Couleur keinen Meter Raum bieten, egal ob auf der Straße, in den Parlamenten oder in den staatlichen Institutionen. Drängen wir den alltäglichen Rassismus und seine gesellschaftlichen Grundlagen zurück. Lasst uns die Taten des NSU und das staatliche Handeln nicht in Vergessenheit geraten lassen. Kämpfen wir gemeinsam gegen den staatlichen und alltäglichen Rassismus, gegen die auf Konkurrenz und Ausbeutung basierende Gesellschaft und rechten Terror und seine Netzwerke.

Wir fordern:

  • Auflösung des Verfassungsschutzes und der Geheimdienste
  • Lückenlose Aufklärung der Taten des NSU und die Offenlegung aller Akten jetzt
  • gesellschaftliche Kontrolle über Polizei und Ermittlungsbehörden

Kommt zur Kundgebung

Donnerstag, 04. November 2021, 18 Uhr
Schlossplatz Stuttgart

Facebook Veranstaltung: https://fb.me/e/18UwC1pbh


Eine Initiative von: Antifaschistischen Aktion Herrenberg; Aufstehen gegen Rassismus Stuttgart, Gruppe ArbeiterInnenmacht; Libertäres Treffen Rems-Murr; Migrantifa Stuttgart; SDAJ Stuttgart; Zusammen Kämpfen Stuttgart

Den Aufruf unterstützen: Alinteri Stuttgart; Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum e. V.; Interventionistische Linke Stuttgart; Stuttgart gegen Rechts; SJD die Falken Stuttgart; Widersta_NT (Nürtingen); YDG

Ausgewählte Texte